Vorerst ein kleiner Exkurs. Nun ist Ganzheitlichkeit ein großer Begriff. Im medizinischen Kontext steht es für einen Ansatz, in dem der Mensch individuell betrachtet und behandelt werden soll. Es impliziert, dass er ein strukturiertes, nach außen offenes System ist. Deren Teile stehen in wechselseitiger Beziehung zueinander, zum ganzen Organismus und zur Außenwelt. Wir gehen als Osteopath*innen von einer Einheit von Körper, Seele und Geist aus. Dabei beeinflussen den Menschen Faktoren wie die eigenen Ideale und Wertvorstellungen, die eigene Lebensweise (Bewegung, Ernährung, Stress und Entspannung) und das soziale Umfeld mit allen Beziehungen (Familie, Freunde, Beruf, Mitmenschen, Gesellschaft). Auch die Umwelt, in der wir uns bewegen (Klima, Luftqualität, Technik, Wohnraum, usw.) spielt eine Rolle sowie die eigene Spiritualität.
All diese Faktoren nehmen also Einfluss auf unser Wohlergehen und unsere Gesundheit.
Was bedeutet Ganzheitlichkeit nun für uns als Osteopath*innen? Wir sind uns der Dimension dieser Ganzheit bewusst und nehmen Einfluss auf das „System Mensch“, indem wir seinen Körper behandeln. Die Physiologie des Menschen drückt zu jedem Zeitpunkt exakt den Zustand dieses offenen Systems aus. Sind die vielen Bereiche des Ganzen in Einklang, so drückt es sich durch Gesundheit aus. Sind sie es nicht, zeigt es sich durch verschiedene Symptome in Körper, Seele und Geist.
Unsere Expertise in der Osteopathie ist der Zugang zu dieser Ganzheit über den Körper. Wie schon erwähnt, stehen die Teile in wechselseitiger Beziehung zueinander, darauf werde ich gleich noch einmal genauer eingehen. Gleichzeitig bedeutet es aber auch, dass sich die Beziehung zur Außenwelt verändert, wenn sich die Physiologie des Menschen durch eine Behandlung neu organisieren kann, sprich: wenn etwas heilen kann. Dann tritt die Person mit anderen Voraussetzungen mit der Umwelt in Verbindung. Beispielsweise wird eine Person, deren Immunsystem in Balance ist, auch in Kontakt mit Keimen nicht so schnell krank wie eine Person, bei der Dysbalance herrscht.
Ich möchte am Beispiel des Magens die vielen körperlichen Zusammenhänge veranschaulichen, die wir bei einer osteopathischen Behandlung in Betracht ziehen können.
Stellen Sie sich vor, dass eine Person in die Praxis kommt, die seit einigen Wochen Magenschmerzen und Übelkeit nach dem Essen verspürt.
Zunächst einmal ist es wichtig, mögliche Differentialdiagnosen in Betracht zu ziehen. Welche möglichen Erkrankungen können bei dieser Symptomatik vorliegen, die medizinisch abgeklärt und behandelt werden müssen? Bei anhaltenden Magenschmerzen kommt eine Entzündung der Magenschleimhaut (lat.: Gastritis) in Betracht, außerdem ein Geschwür der Magenschleimhaut (lat.: Ulcus ventriculi), das auch infolge einer Entzündung entstehen kann.
Eine weitere häufige Ursache besteht in einer sogenannten Hiatushernie, dem Zwerchfellbruch, bei der sich obere Anteile des Magens durch die Öffnung im Zwerchfell nach oben in den Brustraum verlagern.
Klassisch wird die Osteopathie aus didaktischen Gründen oft in den parietalen, visceralen und craniosacralen Bereich unterteilt.
Welche Probleme im muskuloskelettalen (parietalen) Bereich können Magenschmerzen auslösen? Durch Blockaden in der oberen Halswirbelsäule oder der Schädelbasis kann unmittelbar auch das Nervensystem in seiner Funktionalität eingeschränkt werden. Betrifft dies den Vagus-Nerv, der auch den Magen versorgt, kann es zu Problemen kommen. Er sorgt dafür, dass Blutgefäße im Magen weitgestellt werden, dass Bewegung in das Organ kommt, und dass Magensäfte produziert und sekretiert werden. Der Nerv, der die Gegensteuerung innehat (N. splanchnicus major und minor), entspringt der mittleren Brustwirbelsäule (Th6-Th9). So können Blockaden in diesem Bereich dafür sorgen, dass dieses fein austarierte Gleichgewicht aus der Balance kommt.
Auch Fehlspannungen im Zwerchfell, unserem Atemmuskel im Oberbauch, oder Rippenblockaden, beispielsweise durch Prellungen, können für Schwierigkeiten des Magens sorgen.
Der zweite Bereich nimmt die Zusammenhänge zu Organen unter die Lupe (visceraler Bereich). So beeinflusst die Beweglichkeit vieler benachbarter Organe auch die Gesundheit des Magens über Gleitflächen, Bänder und Fasern. Dazu gehört der linke Leberlappen, die linke Biegung des Dickdarms, Milz, Bauchspeicheldrüse, querverlaufender Dickdarm und dessen Aufhängung an der hinteren Bauchwand, Speiseröhre, Teile des Zwölffingerdarms, Niere und Nebennieren.
Wird zu viel Zug auf ein Band im Bauchraum ausgeübt, durch das Gefäße verlaufen, können auch Arterien, Venen oder Lymphgefäße komprimiert werden und deren Zielorgan wird unterversorgt oder gestaut.
Auch bei einem Missverhältnis zwischen dem Druck im Brustkorb und im Bauch können Probleme in den Organen des Oberbauchs entstehen.
Der craniosacrale Bereich überschneidet sich mit dem muskuloskelettalen Bereich. Als Osteopathin schaue ich hier nach den Nerven bzw. den Bereichen an Halswirbelsäule, vorderen Halsfaszien und auch Bereiche der Schädelbasis, an denen der Vagus-Nerv entlangläuft oder durchtritt. Beispielsweise kann durch einen Schädelbasisbruch eine Problematik im Nervenverlauf entstehen.
Auch Störungen im Herz-Kreislaufsystem können Ursache sein, denn sie können unter anderem einen venösen Stau im Magen verursachen. Dazu gehören die Stauung der Vena Portae, die Blut vom Magen zur Leber transportiert, Stauung in den Venen der Speiseröhre oder auch eine Rechtsherzinsuffizienz.
Hormone, wie zum Beispiel ein erhöhter Kortisolspiegel, können zu einer übermäßigen Ausschüttung des extrem sauren Magensaftes und verminderter Magenschleimbildung führen.
Ein Anstieg von Kortisol kann zum Beispiel bei Stress entstehen.
Eine weiter Möglichkeit ist ein angeborener oder erworbener Tiefstand des Magens, die Gastroptose. Dabei kann in extremen Fällen der untere Pol des Magens im kleinen Becken liegen. Dies kann zum Beispiel nach Schwangerschaften der Fall sein oder auch bei starker Gewichtsabnahme oder im Alter. Dies hängt mit einem Verlust der Elastizität im Bauchraum zusammen.
Diese Zusammenhänge in der menschlichen Physiologie machen eines vor allem deutlich: Es ist sinnvoll, die Komplexität unseres Körpers zu berücksichtigen und gründlich nach den wahren Ursachen eines Symptoms zu forschen. „Dig on“ waren die Worte von Andrew Taylor Still, dem Begründer der Osteopathie. Er ermutigte vor über hundert Jahren seine Schülerinnen und Schüler dazu, immer weiter die Mysterien der menschlichen Gesundheit zu erforschen.
Tittelfoto:
KMPZZZ – AdobeStock_619683433