Vor genau 20 Jahren, am Silvestermorgen 2003 starb mein Vater. Er war mein letzter Angehöriger. Bei der Beisetzung sagte mir ein ehemaliger Nachbar: „Udo, jetzt bist du Vollwaise.“ 40 Jahre alt war ich damals. Die Trauerfeier, das Beisetzungsritual und das anschließende Kaffeetrinken in der „Siedlerklause“ in Alsdorf zogen wie ein Film an mir vorbei. Mit den Trauergästen, Verwandten und ehemalige Nachbarn, die meisten von ihnen routinierte Beerdigungsgänger, redete ich kaum. Sie waren mit sich selbst und dem damals aktuellen Dorfklatsch beschäftigt.
Ich dachte an meinen Vater. Am Ende seines Lebens hatten wir nicht mehr viel mit einander gesprochen. Er lebte daheim, in unserem Haus, in sich zurückgezogen. Den Tod meiner Mutter, die zwei Jahre zuvor verstorben war, hatte er nicht verwunden.
Heute weiß ich, was er mir bedeutet. Ohne ihn und ohne meine Mutter wäre ich nicht das geworden, was ich heute bin. Obwohl sie arm waren, gaben sie mir Werte, Normen und Lebensmaßstäbe mit, die mir heute Orientierung bieten und von großem Nutzen sind.
Mein Vater war deutscher Soldat im Zweiten Weltkrieg, und als Jugendlicher hatte ich das Gefühl, als sei der Krieg in seinem Kopf nie zu Ende gewesen. Er war Kettenraucher. Heute weiß ich, dass ihn der Krieg traumatisiert hatte. Mit 14 Jahren erkrankte ich erstmals an Krebs – und mein Vater begann, mir von seinen Erlebnissen bei der Wehrmacht und in britischer Gefangenschaft zu erzählen. Er berichtete über das Überleben. Er erzählte mir, wie er nach einer Verwundung von seinen Kameraden geborgen wurde – und wie er selber unter feindlichem Beschuss verletzte Kameraden in Sicherheit brachte. Er berichtete von Märschen voller Strapazen, und wie sich die Männer dabei gegenseitig anspornten: „Wir müssen weitermachen! Wenn wir zurückbleiben, werden wir sterben.“ Alle, die dieses Credo verinnerlicht hatten, kamen ans Ziel, betonte er immer wieder. „Du musst immer weitermachen. Wenn du aufgibst, wirst du sterben!“ – das ist auch heute noch mein Lebensmotto, wenn ich die Strapazen meiner aktuellen Krebsbehandlung erdulde. Mein Vater ist mein Vorbild. Er gab mir die Kraft zum Überleben.
Fast nebensächlich vermittelte er mir das feste Vertrauen in die Demokratie. Er wuchs auf im Nationalsozialismus, erlebte die kommunistische Zwangsherrschaft in der DDR und wurde später in der Bundesrepublik ein glühender Anhänger von Willy Brandt. Mit 18 Jahren trat ich selbst für den Zeitraum von 25 Jahren in die SPD ein.
Meine Mutter vermittelte mir ebenfalls gute Werte. Sie war eine überzeugte Christin. Über 20 Jahre leitete sie die evangelische Frauenhilfe der Kirchengemeinde Hoengen-Broichweiden, war viele Jahre im Presbyterium. Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe zählten für sie zu den Grundlagen ihres Handelns. Als Student begleitete ich sie zu Besuchen von alten Menschen in Heimen und Kliniken – und sie zeigte mir, wie wertvoll die Arbeit und Pflege von Senioren und benachteiligten Menschen ist. Erfahrungen, die mich bis heute als Gesellschafter eines Sanitätshauses prägen.
Als ich nach dem Studium meine ersten Schritte ins Berufsleben tat und schon nach kurzer Zeit Ziel von Mobbingattacken älterer Kollegen wurde, stand mir meine Mutter bei. „Du musst mit den richtigen Leuten offen über deine Probleme reden, das hilft dir. Es gibt eine Lösung“, sagte sie voller Optimismus. Recht sollte sie behalten. Ich offenbarte mich an einem Abend meinem damaligen Chefredakteur und dieser legte dem Anstifter der Mobbingkampagne einen Tag später das Handwerk.
Ich bin sehr dankbar für die Zeit mit Vater und Mutter – und für alles, was sie mir mitgegeben haben. Obwohl ich mich nicht wirklich gut in der Bibel auskenne, kommt mir mit Dankbarkeit das vierte Gebot in den Sinn: „Du sollst Vater und Mutter ehren“, steht dort. Ich glaube, das tat ich. Denn ich war bis zuletzt für sie da. Ein Generationenvertrag, den ich erfüllen konnte.
Viele Menschen haben schon seit jungen Jahren keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern. Die Gründe können vielfältig, ja in manchen Fällen emotional sehr belastend sein. Auch wenn es die Eltern nicht sein können, sind es gewiss andere – Verwandte, Freunde, Lehrer, die junge Menschen emotional stützen und verstärken, ihnen Rat, Hilfe und Orientierung bieten. Es gibt diese Menschen im Leben eines jeden. Auf jeden Fall lohnt es sich, an sie zu denken und ihre Ratschläge, Erkenntnisse und Maßstäbe bei der Bewältigung eigener Krisen zu nutzen.
In einer Woche geht es weiter – mit weiteren persönlichen Orientierungshilfen in besonderen Lebenssituationen und Krisenfällen.
Mit hoffnungsvollen Grüßen
Ihr Udo Foerster