Im Gespräch mit Dr. Sabine Köhler, niedergelassene Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie aus Jena und Vorsitzende des Berufsverbands Deutscher Nervenärzte, über die Versorgung von Menschen mit einer Depression.
Frau Dr. Köhler, gibt es heute mehr Menschen, die an einer Depression erkrankt sind als früher?
Köhler: Dies lässt sich nicht pauschal mit Ja oder Nein beantworten. Wir haben manchmal das Gefühl, dass es mehr Betroffene gibt – vor allem jüngere Menschen. Dies hat aber auch damit zu tun, dass die Awareness für die Erkrankung gestiegen ist. Wenn jemand sich an eine Ärztin oder einen Arzt wendet, erfolgt die Diagnose zeitnaher als früher. Manchmal kommen Menschen mit einem so genannten Burnout zu uns und es stellt sich heraus, dass sie in Wirklichkeit an einer Depression erkrankt sind. Umgekehrt gibt es Fälle, wo sich hinter einer vermeintlichen Depression eine andere Erkrankung verbirgt. Zusammenfassend kann man sagen, dass es heutzutage einen offeneren Umgang mit der Erkrankung gibt, sodass der Anteil der Erkrankten, die aktiv Hilfe suchen, größer geworden ist.
Heißt das, es gibt keine Stigmatisierung mehr?
Köhler: Nein, von diesem Zustand sind wir leider noch weit entfernt. Wir sind zwar als Gesellschaft offener geworden, aber Betroffene sehen sich in ihrem beruflichen und privaten Umfeld immer noch mit vielen Vorurteilen konfrontiert. Als behandelnde Ärzt:innen haben wir aber auch mit Mythen und Vorurteilen aufseiten der Betroffenen zu kämpfen. Viele haben große Angst davor, Medikamente einzunehmen, da sie befürchten, dass sich ihre gesamte Persönlichkeit verändert. Hier ist es wichtig, detailliert über die Wirkweise der einzelnen Medikamente und auch andere Therapieformen aufzuklären, um dann zusammen mit den Patient:innen zu entscheiden, was die richtige Therapie ist.
Wie lange muss eine Depression behandelt werden?
Köhler: Das ist individuell sehr unterschiedlich und hängt auch davon ab, wie die Patient:innen auf die Behandlung reagieren. Bei mittleren bis schweren Depressionen empfehle ich in der Regel eine Kombination aus einer medikamentösen und einer psychotherapeutischen Therapie. Einige merken schon nach zwei Wochen erste Verbesserungen. Bei manchen Patient:innen kann der Weg zur richtigen Therapie etwas dauern. Wenn die gewünschte Wirkung nicht eintritt, wird auf ein Medikament mit einem anderen Wirkansatz umgestellt. Das kommt in der Praxis relativ oft vor. Wenn Patient:innen auf mehrere Medikamente nicht angesprochen haben, sprechen wir von einer Therapieresistenz. Aber auch für solche Fälle gibt es inzwischen effektive Behandlungsmöglichkeiten. Nebenwirkungen können vor allem in der Eindosierungsphase auftreten. Ich versuche immer, die Patient:innen bereits im Vorfeld so gut wie möglich über mögliche Nebenwirkungen aufzuklären. Wenn die Patient:innen gut eingestellt sind und die Therapie Wirkung zeigt, sind oft die Patient:innen, die anfangs besonders skeptisch waren, diejenigen, die sich unter der Therapie sicher fühlen und sie weiter fortführen wollen. Es ist aber nicht nötig, ein Leben lang Medikamente zu nehmen. Die Depression ist nicht immer eine chronische Erkrankung.
Kann man trotzdem einen Rückfall bekommen?
Köhler: Wenn jemand eine depressive Episode hatte, gibt es eine gewisse Empfindsamkeit. Das heißt, das Risiko, wieder an einer Depression zu erkranken, ist höher als bei Menschen, die bisher nie eine Depression hatten. Das hängt aber auch von genetischen Faktoren sowie Sozialisationsfaktoren ab. Das heißt: Wie wird Problemmanagement betrieben, wie ist der Umgang mit Stress? Welche Selbsterwartungen hat jemand? Um dieses Rezidivrisiko zu senken, ist es bei einer depressiven Episode sinnvoll, die Therapie auch nach der Gesundung für 6-9 Monate fortzuführen.
Welche Rolle spielt die Psychotherapie?
Köhler: Wie bereits erwähnt ist die Psychotherapie ein wichtiger Bestandteil der Behandlung. In Deutschland werden sowohl die Kosten für eine Verhaltenstherapie als auch die Kosten für eine Systemische oder Tiefenpsychologische Therapie bzw. Psychoanalyse von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Eine Psychotherapie ist oft sehr langfristig ausgelegt. Da die Plätze bei den spezialisierten Therapeut:innen begrenzt sind, biete ich meinen Patient:innen, die in der Regel akute Unterstützung benötigen, meist auch eine Kurzzeitintervention an, die je nach Bedarf 6-12 Stunden, oft auch weniger Stunden, umfasst.
Klinik oder ambulante Therapie – was ist die bessere Option?
Köhler: Die Diagnose der Depression sollte auf jeden Fall von einer Fachärztin oder einem Facharzt für Psychiatrie gestellt werden. Dies sollte in der Regel ambulant erfolgen und auch die Behandlung kann ambulant durchgeführt werden. Ambulant bedeutet in der Praxis der Fachärztin oder des Facharztes, bei Psychotherapeut:innen (nicht-medikamentöse Therapie) oder in der Ambulanz einer Psychiatrischen Klinik. Für einige Patient:innen kann es sinnvoll sein, ihre häusliche Umgebung, die oft mit vielen Pflichten und Belastungen verbunden ist, zu verlassen. Hier sind Klinikaufenthalte oder Tagestherapien, die inzwischen von vielen Kliniken angeboten werden, eine gute Option. Für Erkrankte mit einer schweren Depression, die trotzdem ambulant behandelt werden möchten, können wir zusätzlich eine ambulante psychiatrische Pflege oder Soziotherapie verordnen. Hier kommen Sozialpädagog:innen mit einer speziellen Zusatzausbildung zu den Patient:innen, unterstützen sie bei der Organisation ihres Alltags und versuchen, gemeinsam mit den Betroffenen und dem familiären Umfeld kraftraubende Stressfaktoren zu reduzieren. Leider steht dieses Angebot in Deutschland bisher noch nicht flächendeckend zur Verfügung.
Wie würden Sie die psychiatrische Versorgung insgesamt beurteilen?
Köhler: Wir haben leider in Deutschland zu wenig psychiatrische Fachärzt:innen. Diese Tatsache lässt sich auch nicht wegdiskutieren. Ich empfehle, bei akuten Verdachtsfällen auf eine Depression auch den Hausarzt oder die Hausärztin einzubeziehen. Manchmal können sie aufgrund ihrer regionalen Netzwerke, einen kurzfristigen Facharzttermin vermitteln. Auch einige Krankenkassen sowie die Kassenärztlichen Vereinigungen unterstützen bei der Arzt- und Terminsuche. Ziel ist es, die Barrieren für die Inanspruchnahme der vorhandenen Hilfsangebote möglichst gering zu halten.
Wegweiser durchs System – Empfehlungen der Expertin:
– Eine Verdachtsdiagnose sollte immer von einer Fachärztin oder einem Facharzt abgeklärt werden.
– Nutzen Sie das Netzwerk Ihrer Hausärztin oder Ihres Hausarztes. Diese können manchmal schneller einen Facharzttermin organisieren.
– Auch andere Institutionen wie Krankenkassen oder Kassenärztliche Vereinigungen bieten Unterstützung.
– Die Indikation für eine tagesklinische oder stationäre Behandlung muss von einer Ärztin oder einem Arzt gestellt werden. Insbesondere Fachärzt:innen für Psychiatrie und Psychotherapie bzw. Nervenärzte haben dafür eine hohe Expertise und können zu allen Behandlungsoptionen beraten. Dies umfasst medikamentöse und nichtmedikamentöse Behandlungswege sowie alle Varianten ambulanter und stationärer Versorgung.
– Haben Sie Geduld, wenn die ersten Therapieversuche nicht sofort anschlagen. Es gibt auch für eine sog. „therapieresistente“ Depression gute Behandlungsmöglichkeiten. Besprechen Sie mit Ihrer Ärztin oder Ihrem Arzt, welches die beste Option für Sie persönlich ist.