In der Pubertät merkte sie, dass sie anders war: an den Beinen etwas stämmiger, ständig blaue Flecken, starke Berührungs- und Druckschmerzen und ein zunehmendes Schweregefühl. Im praktischen Jahr als angehende Ärztin nahmen ihre Beschwerden zu. Ihr damaliger Chef der Gefäßchirurgie stellte die Diagnose – Lipödem. Heute möchte Dr. Nicole Gerlach in ihrer Doppelrolle als betroffene Patientin und Ärztin aufklären, ihr Fachwissen und ihre Erfahrungen teilen. Im Interview spricht sie über den Stellenwert von medizinischen Kompressionsstrümpfen (MKS), individueller Beratung und Selbstmanagement und gibt Antworten auf viel diskutierte Fragen rund um die Lipödem-Therapie.
Frau Dr. Gerlach, inwiefern hat sich das Lipödem auf Ihren Alltag ausgewirkt?
„In jeder Lebenslage war es sehr belastend für mich – gerade zu Beginn als junge Frau. Durch die plötzlichen, unkontrollierbaren Gewichtszunahmen und die umfassenden Therapiemaßnahmen hat sich meine Welt auf den Kopf gestellt.“
Wie werden Sie therapiert?
„Anfangs wurde ich bis zur Abschwellung mit Bandagen gewickelt, bevor ich dann meine flachgestrickten MKS bekam und mehrmals wöchentlich zur Lymphdrainage ging. Als ich beruflich zu stark eingespannt war, suchte ich Alternativen: Massagen, Wassergymnastik, Bewegung auf dem Mini-Stepper – mittlerweile habe ich aus Zeitgründen einen Lymphomaten und trage weiterhin täglich flachgestrickte MKS. Es ist mir wichtig, konsequent aktiv zu sein – auch im Sinne eines umfassenden Selbstmanagements. Als mein innerer Leidensdruck durch tägliche Schmerzen trotz aller Maßnahmen zunahm, entschied ich mich für eine Liposuktion.“
Wie hoch ist der Stellenwert von medizinischen Kompressionsstrümpfen (MKS) nach diesem Eingriff?
„Der Stellenwert von MKS ist vor und nach einer Liposuktion normalerweise gleich hoch, ein kontinuierliches Tragen ist enorm wichtig, auch gerade als konservative Therapiemaßnahme zur Linderung von Schmerzen. Es ist eine Wunschvorstellung und selten tatsächlich möglich, dass man nach einer Liposuktion keine medizinische Kompression mehr benötigt – die Realität sieht anders aus, da das erkrankte Gewebe nicht vollständig entfernt werden kann.
Durch den operativen Eingriff muss sich das Gewebe umbilden – eine optimal angepasste Kompressionsversorgung ist für die Heilungszeit sehr wichtig. Nach einer Liposuktion sollte man für mindestens sechs Monate, besser ein Jahr die MKS tragen, ich empfehle es dauerhaft darüber hinaus.“
Worauf legen Sie Wert bei der medizinischen Kompressionsversorgung?
„Die MKS müssen individuell an den Patienten und dessen Bedürfnisse angepasst werden, Material und Passform spielen eine große Rolle. Auch die Vielfalt an Mustern und Farben haben einen positiven Einfluss auf Akzeptanz und Compliance (Therapietreue).“
Neben der medizinischen Wirksamkeit spielt die Optik also eine wichtige Rolle?
„Definitiv, die verschiedenen Farben und Motive sind toll! Die MKS fallen im Alltag auf den ersten Blick nicht auf, sondern sehen wie normale Strümpfe und Strumpfhosen aus. Das gibt einem ein gutes Gefühl – auch gerade für junge Mädchen sind die bunten Farben eine tolle Option.“
Sie sind in den sozialen Medien aktiv. Was hat Sie dazu bewogen, Ihren Alltag und Ihr medizinisches Fachwissen zu teilen?
„Meine Familie und Freunde haben mich motiviert, als Ärztin und betroffene Patientin aktiv zu werden. Es ist eine Herzensangelegenheit, mit meiner Erfahrung und meinem Wissen anderen Gutes zu tun. Ich informiere über die Zusammenhänge und Hintergründe der Krankheit und halte mit neuen Inhalten auf dem Laufenden. Oftmals fehlt immer noch Wissen, auch in der Ärzteschaft, und meine Patienten fühlen sich unverstanden – das kann ich als Betroffene gut nachvollziehen.“
Wir beobachten einen tollen Support in der Lipödem-Community. Wie trägt das aus Ihrer Sicht zum Therapieerfolg bei?
„Jeder entscheidet individuell, worüber er sich in welcher Tiefe informieren möchte und was ihm Spaß bereitet. Die Community wächst stetig, man kann sich mit Menschen austauschen, die man auf der Straße nicht sehen würde und merkt, dass man mit seiner Diagnose nicht allein ist. Ich finde Kanäle mit Persönlichkeiten ansprechend, die einen authentischen Einblick geben und auch offen sagen, wenn es ihnen nicht gut geht – das ist das wahre Leben.“
Welche Rolle spielt ein gutes Selbstmanagement?
„Eine sehr große – mit ganz vielen Ausrufezeichen (lacht)! Anstatt sich auf der Diagnose und den konservativen Maßnahmen auszuruhen, muss man natürlich auch selbst aktiv werden. Ein Beispiel: Die meisten Lipödem-Patienten haben Übergewicht. Anders als oft kommuniziert, kann man auch mit Lipödem abnehmen. Lipödeme können aber nicht durch Abmagerungskuren bekämpft werden. Ein bestimmtes, individuelles Gewichtsmanagement in Verbindung mit Sport und Kompressionstherapie erzielt jedoch sehr positive Ergebnisse und kann die Beschwerden lindern. In jedem Fall sollten Patienten jegliche Gewichtszunahmen dringlich vermeiden und bei bestehendem Übergewicht versuchen, dieses zu reduzieren. Doch das muss der Kopf zunächst selbst wollen.“
Welche Rollen nehmen die Experten aus dem Fachhandel ein?
„Man sollte ein gutes Sanitätshaus an der Hand haben, denn die Beratung durch den Fachhandel hat einen hohen Stellenwert für die Therapietreue der Patienten. Vor allem die Erstversorgung muss passgenau sein, damit die Patienten die MKS konsequent tragen.“
Sie sind Spezialistin in der Ernährungsmedizin. Welche Tipps können Sie geben?
„Die Ernährung beeinflusst das Lipödem. Bei jeder Gewichtszunahme werden durch Fettgewebszunahme Lymphbahnen und -kapillaren eingeengt. Schlägt man über die Stränge, haben die meisten Patienten am nächsten Tag eine Art „Kohlenhydrat-Kater“ – man fühlt sich abgeschlagen, hat mehr Schmerzen und Wassereinlagerungen. Ausreichend zu trinken, ergänzend beispielsweise mit Haferkraut-Tee, ist wichtig, um das Lymphsystem zu aktivieren. Fertigprodukte, Zusatz- und Konservierungsstoffe sowie hormonsensitive Stoffe aus Konserven und Plastikflaschen gilt es zu meiden, tierische Lebensmittel zu reduzieren, stattdessen besser auf pflanzliche Ersatzprodukte umsteigen. Zudem sollten sich Lipödem-Patienten zuckerfrei ernähren, ohne raffinierte Kohlenhydrate und Weißmehlprodukte. Als Alternative können Kohlenhydrate mit einem niedrigen glykämischem Wert, wie Vollkornbrot oder Hülsenfrüchte, auf dem Speiseplan stehen. Milchprodukte sollten Lipödem-Patienten meiden, beziehungsweise auf qualitativ hochwertige Heumilch von Gras-gefütterten Kühen ohne Mastfutter- / Getreidegabe umsteigen. Bei konventioneller Milch ist der Östrogengehalt erhöht, doch dieses Hormon fördert das Wachstum des Lipödemgewebes und kann das Fortschreiten der Krankheit auslösen. Wichtig ist es, mit dem behandelnden Arzt zu sprechen, da vor allem auch bei weiteren Begleiterkrankungen eine individuelle Therapie eng abgestimmt sein sollte.“
Es besteht also ein Zusammenhang zwischen einem Lipödem und Hormonen?
„Ja, das weibliche Geschlechtshormon Östrogen fördert Schübe und das Fortschreiten der Erkrankung. In der Pubertät entstehen oftmals erste Gewebs- und Berührungsempfindlichkeiten sowie blaue Flecken. Die ‚Pille‘ kann das verstärken. Es ist deswegen wichtig, einen guten Gynäkologen an der Hand zu haben. In der Schwangerschaft kann es durch die Hormonumstellung zu einem erneuten Schub kommen.“
Welche Faktoren beeinflussen, neben der Ernährung und dem regelmäßigen Tragen der MKS, den Lipödem-Schmerz?
„Bewegung! Das geht auch bei sitzenden Tätigkeiten – durch wippende Bewegungen der Beine und Füße werden die Waden- und Venenpumpe aktiviert. Nicht vergessen: Während der körperlichen Tätigkeit auch MKS tragen und die Beine zwischendurch hoch lagern. Ein weiterer Tipp: Atemübungen. Bewusstes, tiefes Atmen in den Bauch hinein fördert über den erzeugten Unterdruck den Blutrückstrom zum Herzen und damit sekundär den Abtransport der Lymphflüssigkeit.“
Was möchten Sie Lipödem-Patienten mit auf den Weg geben?
„Werdet selbst aktiv und schöpft alle Therapie-Möglichkeiten individuell aus! Der eigene Wille ist wichtig, denn unterstützend könnt ihr viel machen. Bewegung im Alltag ist das A und O, Alternativen gibt es immer: Für Personen, die keine 10.000 Schritte am Tag schaffen, könnte beispielsweise ein Heimtrainer für Arme oder Füße helfen oder kleine Hanteln zur Stärkung der Muskeln. Findet gemeinsam mit eurem Arzt heraus, was funktioniert und Spaß macht. So kann jeder für sich die optimale Therapie finden!“
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