Rund eine Million Menschen in Europa leiden unter Multipler Sklerose (MS), in Deutschland sind circa 250.000 Männer und Frauen betroffen – Tendenz steigend. Gleichwohl unheilbar, gilt Multiple Sklerose in Zeiten modernster Medizin als vielfältig therapier- und symptomatisch gut behandelbar; und zwar in jeder Variante und Verlaufsform.
Was ist Multiple Sklerose?
MS ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS): Das eigene Immunsystem greift die Ummantelung (Mylinscheiden) der Nervenbahnen (Axone) an und beschädigt sie. Dadurch werden Botschaften, die durch die Nerven transportiert werden, verlangsamt oder kommen gar nicht mehr an. Da die Erkrankung chronisch ist, also dauerhaft fortbesteht, nehmen die Schädigungen schleichend zu. Dabei bleiben sie lange Zeit im Verborgenen. Der Körper findet meist zunächst Umleitungen, um betroffene Nervenbahnen zu umgehen. Erst, wenn zu viele Wege versperrt sind, werden die Schäden auch äußerlich spürbar, z. B. in Form von Taubheitsgefühlen, Sehstörungen und Lähmungserscheinungen.
MS kann alle Teile des zentralen Nervensystems betreffen. Je nachdem, welche Region von der Entzündung betroffen ist, können Patient*innen mit der gleichen Erkrankung unter ganz unterschiedlichen Symptomen leiden. MS wird deshalb auch als die „Krankheit mit den tausend Gesichtern“ bezeichnet.
Die verschiedenen Verlaufsformen der MS
„Die Diagnostik unterscheidet drei verschiedene MS-Varianten: Zum einen die schubförmig remittierende Multiple Sklerose (RRMS), die überwiegend zu Krankheitsbeginn auftritt. Im längeren Verlauf geht diese Form häufig in die sekundär chronisch-progrediente Multiple Sklerose (SPMS) über, die nach mehr als 20 Jahren circa 90 Prozent der Patienten aufweisen. Nur bei einem Zehntel der Betroffenen zeigt sich von Beginn an die primär chronisch-progrediente Multiple Sklerose, die sich durch eine langsame Verschlechterung ohne klare Schübe definiert“, erklärt MS-Experte Dr. med. Mimoun Azizi, Chefarzt der Klinik für Neurogeriatrie im Allgemeinen Krankenhaus Celle. Dank neurowissenschaftlicher Forschung und individueller Therapien ist es RRMS- und SPMS-Betroffenen heute möglich, Einschränkungen der Lebensqualität so gering wie möglich zu halten. „Dabei gilt der Grundsatz: Je frühzeitiger und intensiver ein Patient fachmedizinisch behandelt wird, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dem Fortschreiten der Krankheit erfolgreich entgegenzuwirken“, so Dr. Azizi weiter.
Die verlaufsmodifizierende Behandlung ist für einen langfristigen Erfolg gegen die Krankheit unersetzlich. Hier gibt es eine Reihe an innovativen Wirkstoffen, die an der Wurzel der Erkrankung ansetzen und das fehlprogrammierte Immunsystem regulieren. Den Antikörper-Wirkstoff Ofatumumab beispielsweise können sich Betroffene mittels Selbstinjektionspen monatlich selbst verabreichen. Einen Durchbruch Für die spätere Verlaufsform der MS (SPMS) nutzt den Wirkstoff Siponimod als orale Therapieform. Hiermit sollen die motorischen und kognitiven Fähigkeiten der Betroffenen länger erhalten bleiben. Häufig wird eine verlaufsmodifizierte Therapie durch eine symptomatische Behandlung ergänzt. Dies kann beispielsweise sowohl mithilfe von Medikamenten als auch in Zusammenarbeit mit Physio-, Ergo- oder Sporttherapeuten erfolgen.
Wirkstoff Siponimod bewährt sich im „Real Life“ – Leistungsfähigkeit bleibt erhalten
Besonders im Fokus der MS-Forschung steht der Wirkstoff Siponimod, dank dessen Zulassung im Jahr 2020 in Deutschland die erste orale Therapiemöglichkeit zur Behandlung von SPMS besteht. Die selektive Antikörpertherapie erhält die häufig gefährdete kognitive Leistungsfähigkeit von Betroffenen und setzt gezielt an den aktivierten Lymphozyten an, so dass – anders als bei einer Chemotherapie – eine Grundimmunität erhalten bleibt. Im Oktober 2022, drei Jahre nach der Zulassung am deutschen Markt, stellten Fachleute auf dem 8. Kongress der European Academy of Neurology (EAN) in Wien erste Interimsdaten des Hoffnungsträgers Siponimod vor. Die in der Forschungssprache als ,Real World‘ bezeichnete, reale Studienumgebung stand einer Placebo-Gruppe gegenüber und begleitete 533 Patienten über einen Zeitraum von 12 Monaten bei der Einnahme des Wirkstoffs. Dabei blieben die Patienten im allgemeinen Behinderungsgrad stabil, speziell die körperliche und kognitive Leistungsfähigkeit blieb auf gleich hohem Niveau. Weitere positiv ausgefallene Parameter waren der stabile Fatigue-Score, die höhere Behandlungszufriedenheit und die verbesserte Lebensqualität.
Neben den positiven Studienergebnissen des Antikörper-Wirkstoffs gibt es weitere für MS-Patienten interessante Nachrichten:
- Im Jahr 2018 publizierten die European Academy of Neurology (EAN) und das European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS) erstmals eine gemeinsame Leitlinie zur Behandlung der Multiplen Sklerose (MS). Diese Leitlinie wurde umfassend aktualisiert und in der neuen Fassung dem Fachpublikum vorgestellt. Ergänzt wurden unter anderem wichtige Informationen zu langjährig bewährten Wirkstoffen. Die Leitlinie soll Hilfe bei der Behandlung erwachsener Patienten mit aktuell in Europa zugelassenen Medikamenten bieten.
- Das Zusammenspiel von Ernährung, Darmflora und Immunsystem hat einen Einfluss auf die Krankheit. Man geht davon aus, dass die Darmflora auf die MS einwirkt – nun liefert eine zum EAN-Kongress vorgestellte Beobachtungsstudie weitere Hinweise. Demnach können die richtigen Darmmikrobiome die MS-Progression verlangsamen. Patienten mit einem dysbiotischen Darmmikrobiom neigen eher zur progressiven Verlaufsform als solche mit einer breit aufgestellten, gesunden Darmflora. Eine gesunde Ernährung bleibt also das A und O.
- Neue, bei einer Präsentation während des EAN-Kongresses vorgestellte, Daten stützen eine weitere bekannte These rund um die Behandlung von Multipler Sklerose: Patienten profitieren vom frühen Einsatz hochwirksamer Therapien. Eine aggressive MS-Therapie bringt langfristige Vorteile und kann die Verlaufsprognose verbessern.
Fazit: Menschen mit Multipler Sklerose benötigen spezialisierte Fachärzte, die sie begleiten. Betroffene erhalten hier fachmedizinische Informationen über die Krankheit und deren individuelle Behandlungsoptionen.
Über EAN
Die Europäische Akademie für Neurologie ist eine unabhängige Non-Profit-Organisation, die mehr als 45.000 Mitglieder sowie 47 europäische nationale Gesellschaften vertritt. Hauptaufgabe der EAN ist die Förderung neurologischer Exzellenz in Europa und weltweit, um eine bessere Patientenversorgung und eine hohe Forschungsqualität zu erreichen. Hierfür kommen die besten Mediziner, Pädagogen und Wissenschaftler Europas zusammen. Ziel ist es, Europa an der Spitze der neurologischen Forschung zu halten und seine Position als einer der wissenschaftlichen Hotspots der Welt in der Neurologie zu bewahren. Die Vorstandsmitglieder und Führungskräfte sind anerkannte Experten auf dem Gebiet der Neurologie, die einmal im Jahr zum renommierten EAN-Kongress einladen. 2022 fand er in Wien, Österreich statt. Mehr Informationen zur Organisation und dem Kongress erhalten Sie auf www.ean.org.