Wir alle sind mit der Notbremse vertraut, die in Schienenfahrzeugen und Aufzugsanlagen zu sehen ist. Es ist eine Vorrichtung mit einem oft warnend rotfarbigen Griff, der eine sofortigen Bremsung auslöst. Diese kann bei Gefahren Menschenleben retten, aber ihr Gebrauch ist nicht ohne Folgen. Die abrupte Abbremsung führt schnell zur Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer sowie zu einer Störung des gesamten Betriebs. Ein unsachgemäßer Gebrauch ist in Deutschland ein Vergehen gemäß § 145 StGB (Missbrauch von Notrufen und Beeinträchtigung von Unfallverhütungs- und Nothilfemitteln) und kann z.B. in Russland auch zur Verhaftung führen.
Die Gefahr bei einer Notbremsung ist zu entgleisen, auf französisch “dérailler”. Aber das Wort “dérailler” bedeutet nicht nur, die realen Gleise unter den Rädern zu verlieren, sondern auch “auf imaginären Gleißen weiterzufahren”, von der Bahn des logischen Denkens abzukommen oder “verrückt” zu werden. Und dies ist genau die Gefahr, von der wir hier sprechen wollen. Shakespeare hat sie verkörpert in Ophelia (Hamlet, Akt IV, Szene 5), die hier zusammenhangslos Details aus ihrem Leben berichtet und willkürlich erscheinende Strophen alter Lieder singt, nachdem sie von Hamlet verlassen wurde.
Hier sinngemäß der Bericht einer Patientin von mir, die einen schweren Autounfall auf dem Heimweg von ihrer Arbeit hatte: Die Autobahn war frei, aber plötzlich scherte ein Lastzug vor ihr aus und bremste. Es war ihr unmittelbar klar, dass sie keine Zeit mehr hatte zu bremsen und dass ein Zusammenprall unausweichlich auf sie zu kam. Sie hatte jedoch plötzlich das Gefühl, als wäre sie nicht mehr die Person, die hinter dem Steuer saß, sondern als würde sie die Szene von außerhalb ihres Körpers wahrnehmen, so als ob sie nur ein Zuschauer und nicht ein Beteiligter des kommenden Unfalls gewesen wäre.
Dies ist ein typisches Reaktionsmuster, das wir regelmäßig wiederfinden und das auch oft in Filmszenen von unmittelbaren Gefahrensituationen durch eine Verlangsamung des Zeitablaufs und ein Wegbleiben der Hintergrundgeräusche dargestellt wird. Unsere Wahrnehmung verändert sich und statt in ein Gefühl auswegloser Panik zu verfallen, das einem Überleben in keiner Weise hilfreich wäre, sehen wir plötzlich die Situation klar vor unserem geistigen Auge, mit Abstand und ohne Herzklopfen.
Dies entspricht auch dem “out of body” Erlebnis und der Abstandsnahme von uns selbst, die wir in der Meditation und in den Mindfulness Übungen suchen. Es ist die direkte Folge jener inneren Notbremse, die sich wie ein Airbag bei einer plötzlich Notfallsituation aktiviert, um unsere Überlebenschancen zu optimieren.
Der derzeitige Stand unserer neurowissenschaftlichen Erkenntnisse erlaubt eine Erklärung der damit verbundenen Gehirnprozesse. Wir wissen das die im Gehirn ankommenden Informationen unserer fünf Sinne zunächst über die Amygdala (Mandelkern, anatomisch Corpus amygdaloideum) laufen, die hier als Zentrum für die emotionale Verarbeitung fungiert und die emotionale Bedeutung der einzelnen Informationen auswertet. Sie leitet ihr Ergebnis sodann an den Hyppocampus weiter, der dann die Aufgabe hat, diese Informationen entsprechend ihrer emotionalen Bedeutung mit anderen bereits vorhandenen Informationen als Gedächtnisspur abzuspeichern.
Dieser Weg bricht bei überwältigenden emotionalen oder traumatischen Situationen zusammen. Er wird durch die Notbremsfunktion unterbrochen und es entsteht eine sogenannte dissoziative Reaktion. Der Hippocampus unterbricht seine normale Funktionsweise. Er ist jetzt nicht mehr in der Lage, die Informationen sinnvoll zu organisieren und mit dem Rest der entsprechenden Erinnerungen zu integrieren.
Die traumatischen Erlebnisse formen sodann eine Masse von bedeutenden Sinneseindrücken, die im Unterschied zu den regulären Erinnerungen nicht verarbeitet, eingeordnet und bewusst verstanden werden konnten. Sie führend fortan ihr Eigenleben, vergleichbar mit der Entstehung eines Abszesses, der ja auch von Körper abgeschieden und isoliert wird, um nicht weiter zu schaden, oder eine Quarantäne. Der Organismus kann indessen sinnvoll weiter funktionieren und die all die Dinge tun, die notwendig sind, ohne unter der aufgetretenen Belastung zusammenzubrechen. Das Erlebte verbleibt isoliert von Assoziationen, was dem Organismus erlaubt, auch weiterhin seinen lebensnotwendigen Bedürfnissen nachzugehen, ohne dabei gestört zu werden. Durch diese Ausgliederung entsteht auch keine Verbindung mit den sprachverarbeitenden Bereichen des Gehirns und das Geschehene kann somit auch nur sehr schwer mit Worten beschrieben werden. Die sprachliche Formulierung erlaubt es hier nicht, diesen Erinnerungen einen Sinn zu geben.
Diese Notbremsungsmaßnahme in unserem Gehirn erlaubt somit ein Überleben und Weiterkämpfen selbst in aller schwierigsten Situationen. Andererseits werden die Sinneseindrücke dessen, was geschehen ist, nicht ausgelöscht und verbleiben dort. Dies geschieht, obwohl sie vom Gehirn nicht verarbeitet wurden und sind wohl auch gerade deswegen jederzeit besonders gegenwärtig, wenn es uns dann auch oft schwerfällt, dessen bewusst zu werden. Diese Inhalte treten dann häufig viel öfters in den Vordergrund als Erinnerungen, die vom Hippocampus moduliert wurden. Sie können in Träumen wiederkehren oder im Laufe des Tages als sogenannte Flashback Erscheinungen unvermittelt auftreten, ohne dass die Betroffenen dann viel damit anfangen können oder so recht verstehen, was sie davon halten sollen.
Wie wir gesehen haben, erlaubt uns diese Funktion der Notbremse in unserem Kopf, von der positiven Seite aus gesehen, uns selbst in schwierigsten Situationen emotional von dem Geschehen zu trennen (d.h. zu dissoziieren) und so ruhig und kühl handeln zu können, statt in Panik zu geraten.
Der Nachteil dabei ist jedoch, dass dies meist dazu führt, dauerhafte Auswirkungen zu haben, die alles andere als nützlich sind und fortbestehen, auch wenn die akuten Ereignisse schon seit langem vorbei sind.
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