Daraufhin schwieg der See eine Weile. Dann sagte er: „Zwar weine ich um Narziss, aber dass er so schön war, hatte ich nie bemerkt. Ich weine um ihn, weil sich jedes Mal, wenn er sich über meine Wasser beugte, meine eigene Schönheit in seinen Augen widerspiegelte.”
So beginnt “Der Alchimist“, einer der ersten und bekanntesten Romane von Paulo Coelho (geb. 1947), den dieser 1987 in nur zwei Wochen geschrieben hat, und von dem gesagt wurde, dass er mehr ein Werk zur Selbsthilfe als schöngeistige Literatur wäre. Die hier erzählte Geschichte des Alchimisten Santiago findet sich bereits in der Sammlung Tausend und eine Nacht, aber Coelho hat ihr den Sinn einer Suche nach der eigenen Bestimmung gegeben. Das Buch wurde bereits in 80 Sprachen übersetzt und in 170 Ländern vertrieben. Diese zu Beginn des Buches eingefügte Schilderung erzählt von dem schönen Jüngling Narziss, der so sehr in sein Spiegelbild verliebt war, dass er plötzlich nicht anderes mehr wahrnehmen konnte, ins Wasser fiel und ertrank. In der Feder von Oscar Wilde erging es dabei dem See nicht anders. Er hat sich in sein Spiegelbild in den Augen des Jünglings verliebt. Dabei hat keiner den anderen wirklich wahrgenommen.
Hiermit sind wir bereits im Herzen dieser sogenannten narzisstischen Störungen, bei denen die Betroffenen nur sich selbst sehen und dabei auch maßlos überschätzen. Die anderen interessieren sie so gut wie gar nicht und sie agieren ihnen gegenüber auch häufig rücksichtslos und kalt.
Die Betroffenen stehen oft im Mittelpunkt und erzählen den anderen mit strahlendem Lächeln, was sie für Helden sind. Sie zeigen dabei ein überschwänglich positives Selbstbild, das sie zugleich vor jeglicher negativen Kritik schützt. Dies mag auch eine Person sein, die sich noch nie für irgendetwas entschuldigt hat und grundsätzlich immer anderen die Schuld gibt, wenn etwas nicht richtig läuft. Sehen wir aber näher hin, so finden wir oft starke Gegensätze. Außen ein perfekter Anschein, aber Leere und Depression im Inneren. Es zeigt sich, dass die Fantasien über die eigene Großartigkeit oft nichts anderes als ein Schutz gegen innere Unsicherheit und Gefühle der Wertlosigkeit sind. Im Inneren verbirgt sich die dann häufig die Vorstellung, nicht hübsch und liebenswert zu sein.
Narzisstische Menschen sind anstrengend, können aber oft auch sehr anziehend wirken.
Der Ursprung dieser Störung liegt in der frühen Kindheit bei der Entstehung des Selbstbewusstseins und des Bedürfnisses nach Anerkennung. Diese gehören zur normalen Entwicklung eines jeden, aber sobald sie das sonst übliche Ausmaß überschreiten, zeigt sich die Entstehung einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Dies ist der Fall, wenn die Betroffenen fünf oder sechsmal am Tag eine Bestätigung dafür brauchen, dass sie etwas ganz besonderes sind.
Die Wahrnehmung von Selbstbewusstsein und Selbstdarstellung, Anerkennung und Ablehnung entsteht in der frühen Kindheit. Daher werden in der Psychiatrie die narzisstischen zu den frühen Störungen gezählt. Was hier oft mitwirken kann, sind emotionale Kälte, Ausgrenzung, Mobbing und Missbrauch. Der Narzissmus wird gefördert, wenn das Kind keine stabile Bindung zu den Eltern aufbauen kann und die Eltern ihre Liebe an Bedingungen knüpfen. Wird ein Kind zum Beispiel nur solange geliebt, wie es sich gut benimmt, braucht der Erwachsene später ständig die Bestätigung, dass er auch wirklich gut genug ist. Solche Grundeinstellungen aus der frühen Kindheit sind dann später therapeutisch kaum noch veränderbar. Man spricht daher auch von Persönlichkeitszügen, die nicht therapeutisch behandelt werden können.
Dies führt auch zu einer Störung der Selbstbewertung. Narzissten leben ständig mit der Angst zu scheitern und müssen sich daher ihr ganzes Leben über immer wieder beweisen, dass sie erfolgreich sind. Daher reicht bereits die kleinste Kritik, um sie innerlich zusammenbrechen zu lassen und ein winziges Lob um einen Beweis für ihre Genialität zu finden.
Eine weitere Besonderheit bei der Entstehung dieser Persönlichkeitsstörung ist, das die Betroffenen bereits früh in der Kindheit damit anfangen, die Realität in eine für sie erträgliche Form zurechtzubiegen. Wenn zum Beispiel ein Elternteil gewalttätig ist, reden sich diese Kinder ein, dass dies normal wäre. Das hat sodann zu Folge, dass sie auch als Erwachsene Situationen anders bewerten als gesunde Menschen und das Ausmaß dieser Realitätsverzerrung hängt wiederum mit dem Schweregrad ihrer Störung zusammen.
Wie bei vielen anderen psychischen Störungen liegt auch hier ein gleitendes Spektrum der Schweregrade vor, das von einem noch als normal angesehenen Ausgangspunkt bis zu schwerst veränderten Formen reicht. Die Definition der Grenze, ab wann eine Störung vorliegt und nicht eine Variante dessen, was noch als normal gelten kann, obliegt der Psychiatrie, die sich hierfür heutzutage meist quantitativer Kriterien bedient. Diese wurden in oft langjährigen Diskussionen zwischen den Experten verschiedener Länder festgelegt und werden auch weiterhin in regelmäßigen Abständen verfeinert und angepasst, um eine möglichst weitreichende Übereinstimmung der verschiedenen Fachkreise zu erreichen, die mit der Behandlung und Begutachtung dieser Störungen zu tun haben.
Dies geschieht zum Beispiel im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM; englisch für „diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen“), das zum ersten Mal 1952 erschienen ist und damals 130 Seiten hatte. Die derzeit noch gültige fünfte Auflage (DSM-5) ist 2013 erschienen und hat 947 Seiten. Wie bereits sein Name besagt, handelt es sich um eine zahlenmäßige (“statistische”) Zusammenstellung von Symptomen zu Gruppen, die ebenfalls quantitativ untereinander abgegrenzt werden. Dabei werden bewusst alle psychopathologischen Erwägungen und Theorien, die nicht von allen Behandeln dieser Welt gleichermaßen geteilt werden, bewusst außen vorbehalten. Dies hat zum einen erlaubt, einen allgemeinen Mindestkonsens über die Symptome der psychischen Auffälligkeiten und Anomalien zu finden und zum anderen eine Grundlage für die pharmazeutische Forschung zu liefern, um Patientengruppen zur Medikamentenerforschung zu bilden. Es soll hier nicht verschwiegen werden, dass die derzeitige fünfte Auflage des Handbuchs auch wegen ihrer Wissenschaftlichkeit und der damit verbundenen pharmazeutischen Interessen kritisiert wurde.
Es werden hier zehn spezifische Persönlichkeitsstörungen aufgelistet: Die paranoide, schizoide, schizotypische, antisoziale, borderline-, histrionische, narzisstische, vermeidende, abhängige und zwanghafte Persönlichkeitsstörung.
Nach den hier festgelegten Kriterien kann man von einer krankhaften narzisstischen Persönlichkeitsstörung sprechen, wenn ein anhaltendes und unflexibles, durchdringendes Muster von maladaptiven Zügen besteht, das mindestens zwei der folgenden Bereiche betrifft:
- Die Kognition (Selbstwahrnehmung und Interpretation von Ereignissen)
- Die Affektivität
- Das zwischenmenschliche Funktionieren
- Die Impulskontrolle
Wir sehen, diese offizielle Definition und Einteilung ist mehr technisch beschreibend und statistisch als nachfühlbar.
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