Im Kindesalter sind wir viel anfälliger für traumatische Situationen und Ereignisse als Erwachsene. Unsere Weltanschauung ist noch nicht geformt und von keiner großen Hilfe, wenn “unerhörte Ereignisse” zu verarbeiten sind. Wir sind verletzlich und fühlen uns schnell hilflos und überwältigt und haben keinen inneren Referenzrahmen, der uns Halt geben könnte.
Der Überlebensmechanismus der Dissoziation (“Notbremsung”) funktioniert auch hier bereits ähnlich wie bei Erwachsenen, aber der Hippocampus und das limbische System haben nur wenig Erfahrungswerte und Gedächtnisspuren vorliegen, die es erlauben könnten, traumatische Situationen und Ereignisse angemessen einzuordnen. Dies erklärt, warum tiefgreifende psychopathologische Störungen in diesem Bereich regelmäßig im Kindesalter verursacht wurden.
Traumatische Ereignisse im Kindesalter sind nicht so selten wie man wohl annehmen würde. Es wird z.B. berichtet, dass in den USA fast 5 % der Kinder Missbrauch Erfahrungen haben und 38 % der Mädchen und 16 % der Jungen sollen gemäß einer Schätzung Erfahrungen sexuellen Missbrauchs im Alter unter 18 Jahren gemacht haben. Dazu kommt, dass Kinder auch häufig Zeugen von Gewalt aus zweiter Hand (wie Überfälle und Gewalttaten auf der Straße) und Kriegsereignissen in vielen Regionen der Welt werden.
Die hier beschriebene Funktion einer inneren Notbremse erlaubt es ihnen, trotz der akut erlebten Traumata weiter zu funktionieren, aber die Spuren jener Erlebnisse, die in der Kindheit nur unvollständig verstanden werden konnten, verbleiben in den Gehirnen wie Abszesse am Rande dessen, was bewusst vergegenwärtigt werden kann, und beeinflussen, solange wie sie unbehandelt bleiben, den restlichen Verlaufs des Lebens.
Besonders schwerwiegende Traumata mit anhaltendem Missbrauch in der Kindheit finden sich regelmäßig bei den dissoziativen Identitätsstörungen (DIS). Ich kenne Fälle, bei denen die Betroffenen umgeben von fiktiven Gestalten lebten und mit diesen kommunizierten, ohne sich je zu fragen, ob diese auch wirklich existieren konnten. Es kann gelingen mit Hypnose das Kindheitstrauma aufzudecken und zu behandeln. In solchen Fällen war es dann auch meist möglich, diese paranormalen Wahrnehmungen zum Verschwinden zu bringen.
Ich erinnere mich an einen Patienten, der als Kind den Tod seiner Schwester miterlebte, die ein Jahr jünger war als er. Sie spielten auf der Straße, obwohl er, der ältere der Geschwister, wusste, dass die Eltern dies verboten hatten. Als er sich entschlossen hatte, seine Schwester zu rufen, um zusammen wieder nach Hause zu gehen, geschah es und sie wurde vor seinen Augen beim Überqueren der Straße von einem vorbeifahrenden Auto tödlich verletzt.
Der Junge ist dennoch unauffällig aufgewachsen, hatte aber als Erwachsener so gut wie keine Erinnerungen aus der Kinderzeit. Später begab er sich in psychotherapeutische Behandlung, weil ihm aufgefallen war, dass er sich jedes Mal hohl und gefühllos fühlte, wenn er seine Eltern besuchte. Auch wenn im Gespräch mit seiner Frau oder mit Kollegen etwas über seine Kindheit gesagt wurde, selbst wenn ein Zusammenhang nicht offensichtlich war, bekam er einen entfernten, glasigen Blick in den Augen. Es gelang mithilfe von Hypnose die abgekapselten Gedächtnisspuren vom Tod seiner Schwester aufzurufen, aber eine Besserung konnte erst erreicht werden, nachdem er mit harten Fragen konfrontiert wurde, wie z.B. ob er derjenige war, der seine Schwester getötet hat, wer für ihn damals die Verantwortung trug und ob ein Junge im Alter von 6 Jahren für das Leben seiner Schwester verantwortlich ist.
Ein anderer Fall betrifft eine liebende und umsorgende Mutter, die plötzlich anfing, auf Reisen zu gehen und ihre Tochter Nachbarn und Freunden zu überlassen, nachdem die Tochter 12 Jahre alt geworden war. Bei den Reisen fühlte sie sich jedoch unglücklich und einsam. In der Therapie zeigte sich. dass ihre eigene Mutter plötzlich verstorben war als die Patientin 12 Jahre alt war. Sie hatte es geschafft, keine sichtbare Träne zu zeigen und erfolgreich die Schule und ihr anschließendes Studium zu bewältigen. Das Trauma des plötzlichen Verlusts ihrer Mutter hatte jedoch die unausgesprochene Nachricht in ihr hinterlassen, dass ein Mädchen mit 12 Jahren alleine um sein weiteres Leben kämpfen muss.
Es gäbe noch viele weitere Fälle zu berichten. Allen ist dabei jedoch gemeinsam, dass ein Trauma in der Kindheit vorliegt, das zunächst durch einen Zug an dieser inneren Notbremse ausgeschaltet werden konnte, aber tiefe Spuren hinterlassen hat, die den betroffenen nicht bewusst waren. Ihr weiterer Lebensverlauf wurde dadurch grundlegend geprägt.
Auf die Frage, was man machen kann, wenn man solch eine Störung bei sich oder einer Person, die einem nahe steht entdeckt, will ich wie folgt antworten:
Erste Schritte sind das Führen eines Traumtagebuchs und das Praktizieren einer Meditationsform, bei der man versucht seinen Geist und seine Erinnerungen klar zu „sehen“, ohne zu versuchen, diese in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Sodann ist es auch hilfreich alte Orte zu besuchen, die mit den unangenehmsten Erinnerungen verbunden sind. Dabei ist es wichtig, Schluss mit dem Selbstmitleid und der Identifizierung als Opfer zu machen, um den Menschen, die uns missbraucht und gequält haben, keine Macht mehr über uns zu geben.
Bei schwereren Fällen, in denen eine dissoziative Identitätsstörung vorliegt, beobachtet man auch Persönlichkeitswechsel (“Switch” auf englisch), bei denen z.B. unser Freund Karl sich auf einmal benimmt, als wäre er jemand anderes. Um hier zu helfen, sollte man ihn daher am besten wie folgt ansprechen: „Darf ich mit Karl sprechen, wenn er bereit ist, zurückzukommen“? Anschließend sollte man ihn fragen, ob er zustimmt, mit unserer Unterstützung, einen Therapeuten zur Behandlung aufzusuchen.
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