Liebe Leserin, lieber Leser,
haben Sie sich auch schon einmal so erlebt? Sie befinden sich in einem herausfordernden Gespräch und urplötzlich kippt die Stimmung auf beiden Seiten und die Situation eskaliert. Vielleicht haben Sie es während des Gesprächs gar nicht so richtig wahrgenommen und wundern sich erst nachträglich, dass Sie fürchterlich wütend geworden sind. Wenn Sie die Thematik des Gesprächs noch einmal nachträglich reflektieren, ist Ihnen womöglich gar nicht zu 100 % klar, warum das Gespräch so eskalieren konnte und eventuell fühlen Sie sich schlecht und so, als ob man Ihnen einen Stecker gezogen hätte, kraftlos und ohne Energie. Sie fühlen sich grundsätzlich missverstanden und falsch beurteilt. Sie haben das Gefühl, dass sich solche Situationen auch anders und positiv entwickeln könnten und den Wunsch, dass dies in Zukunft auch geschehen möge?
Das innere Kind
Häufig lassen sich in einem solchen Fall sogenannte verletzte innere Anteile identifizieren. Um eine solche Annahme treffen zu können, lohnt ein Blick in die sozialwissenschaftliche, d.h. psychologisch fundierte Betrachtungsweise der menschlichen Seele. Wir selbst nehmen uns in der Regel als eine kontinuierliche Einheit wahr, ein Ganzes. Dieses Ganze hat dann in unserer Wahrnehmung von uns selbst ganz bestimmte positive oder negative Charaktereigenschaften und diese sind verantwortlich für unser alltägliches, kontinuierliches Verhalten. Dies entspricht aus psychologischer Sicht nur zum Teil der psychischen Wahrheit. Vielmehr besteht die Psyche nach dem Stand der Wissenschaft nicht nur aus den verschiedenen Anteilen beispielsweise des Über-ich, des Es, des Ich und des Bewusstseins über die hier zu schreiben wohl jeden Rahmen sprengen würde, sondern unter anderem auch aus sogenannten verletzten inneren Anteilen, die in der jüngeren Diskussion auch als „innere Kinder“ bekannt geworden sind.
Um ein alltägliches Funktionieren gewährleisten zu können, ist unsere Psyche daher darauf angewiesen, im Laufe unserer Entwicklung zu einer erwachsenen Person eine Art Mastermind, sozusagen einen Manager, oder wie eine Freundin von mir es auszudrücken pflegt, eine „Teamleaderin“ zu installieren, die in den für uns wichtigen Situationen die Kontrolle übernimmt und dafür sorgt, dass wir unbeschadet und möglichst konfliktfrei durch den Tag kommen. Wie wir an der oben beschriebenen Erfahrung nun erkennen können, ist es jedoch erst einmal völlig normal, dass diese innere Führungspersönlichkeit nicht jene Stärke und Präsenz aufweist, wie wir uns das in unserem Selbstbildnis vielleicht hin und wieder wünschen würden und uns darin auch manchmal etwas vormachen. Stattdessen kommt es also zu einem Auftritt verletzter innerer Anteile, die sich in traumatischen und/oder verletzenden Situationen in unserer Kindheit gebildet haben und vielleicht nur in seltenen Momenten so deutlich zu Tage treten, dass sie uns derartige Probleme bereiten. Um dies noch einmal zu verdeutlichen, kann man sich an dieser Stelle vorstellen, dass es in Situationen der äußersten Zerrissenheit insofern auch zu schweren psychischen Erkrankungen kommen kann, die als Persönlichkeitsspaltung umschrieben werden können, wie sie als Schizophrenie oder Phänomen der multiplen Persönlichkeit bekannt sind.
Häufig, das liegt in der Natur der Sache, haben sich diese Verletzungen im familiären Zusammenhang ergeben und sind gerade deshalb auch so schwer zu kontrollieren und aufzulösen, weil sich in diesem Kontext die tiefsten emotionalen Bindungen sowohl positiver als auch negativer Art ergeben. Hierbei mag es im Verlauf einer Therapie auch zu der Gefahr familiärer Verwerfungen aufgrund von Schuldzuweisungen gegenüber Eltern oder auch Geschwistern kommen. Dies ist nicht auszuschließen und wird Gegenstand einer weiteren Folge sein, die sich dem Thema intergenerationelle Zusammenhänge und Familiensystem widmet.
Konfliktlösungen werden bis zum 6. Lebensjahr abgeschlossen
Es gibt eine Theorie, die besagt, dass alles, was wir an Konfliktlösungen gelernt haben, bis zum 6. Lebensjahr abgeschlossen sein muss und dass unser Gehirn in dieser Angelegenheit darüber hinaus nur schwer dazu lernen könne. Wundert es da, wenn uns, mit dem nötigen Abstand betrachtet, manche erwachsenen Streithähne wie zwei ungezogene 6-Jährige vorkommen?
Eine Möglichkeit, wie sie sich in der Psychotherapie nun ergibt, ist es, mit diesen verletzten inneren Anteilen zu arbeiten und sie Schritt für Schritt zu einem integrativen Bestandteil der Persönlichkeit zu machen, d.h. sie einerseits so zu verwandeln, dass sie anfänglich in wichtigen Situationen nicht mehr automatisch die „Kontrolle“ übernehmen und gleichzeitig die Teamleaderin so zu unterstützen und zu stärken, dass diese wiederum in der Lage ist, die Kontrolle ihrerseits in den entscheidenden Momenten zu übernehmen und das in Wahrheit unkontrollierte Geschehen in eine selbstbestimmte Handlung zu überführen. Dies hat nicht nur zur Folge, dass sich besagte Konfliktsituationen in der oben beschriebenen Weise erst gar nicht ergeben; es bedeutet vielmehr und viel wichtiger vor allem, dass wir uns selbst von der Scham unserer Kindheit emanzipieren und uns in die Lage versetzen ein, wahrhaft selbstbestimmtes Leben zu führen. In einem zweiten Schritt scheint es langfristig möglich, die verletzten Anteile nicht nur zu befrieden und zu integrieren, sondern sie in einen sogenannten transmutativen Prozess zu überführen, d. h. sie nicht nur lediglich zu verwandeln, sondern in einen funktionell völlig unterschiedlichen Anteil zu „verzaubern“, der aus einem ursprünglich zur Krankheit tendierenden Anteil einen Wesensteil macht, der einzigartig bereichernd sowohl für die Einzelnen als auch für alle Teile der Gesellschaft wirkt. Auch hierzu ist eine Fortsetzung geplant.
In meinem nächsten Artikel gehe ich auf die Gefahr familiärer Verwerfungen aufgrund von Schuldzuweisungen gegenüber Eltern oder auch Geschwistern im Rahmen der Heilung des „inneren Kindes ein. In diesem Sinn wünsche ich Ihnen erst einmal viel Freude beim weiteren Lesen des Gesundheits-Blogs und hoffe, Sie in Ihrer Beschäftigung mit sich selbst ein wenig angeregt zu haben.
Titelfoto:
Markus Mainka -AdobeStock_160784263