Einige der häufigsten Fragen, die wir von unseren Patienten gestellt bekommen, sind:
„Spüren Sie etwas?“
„Was fühlen Sie denn da?“
Stellen Sie sich Folgendes vor:
Sie sitzen mit geschlossenen Augen auf einem Stuhl und ich gebe Ihnen drei Alltagsgegenstände in die Hand. Sagen wir – eine Brille, eine Gabel und ein Handy. Sie werden sicher nur Sekunden brauchen, um herauszufinden, worum es sich handelt. Warum? Nicht weil es Ihnen angeboren ist, sondern weil Sie es trainiert haben.
In einer meiner ersten osteopathischen Ausbildungsstunden befanden wir uns mit 70 Schülern in einem großen Saal. Die eine Hälfte der Studenten lag auf einer Behandlungsliege, die andere saß still daneben – eine Hand auf dem Oberschenkel des Kollegen. Die Aufgabe bestand darin, einfach nur „zuzuhören“. Ganz ehrlich – ich fühlte absolut gar nichts. Auf die Frage an den Dozenten, was man denn wahrnehmen soll – kam die Antwort: „Mach Dir nichts draus, das kommt schon.“ Wie sich herausstellte, bekam ich den Satz noch öfter zu hören.
Schier unzählige Rezeptoren in unserer Haut geben uns Rückmeldung über Berührung, Druck, Wärme, Kälte, Dehnungszustand oder Schmerz; sie leiten diese Informationen weiter zum Rückenmark; gemeinsam mit den Sinnesorganen, wie beispielsweise unseren Augen und Ohren, sind sie so etwas wie die Außenstellen unseres Gehirns.
Vorsichtig streichen die Fingerspitzen über ein Stück Papier: kleinste Unebenheiten werden spürbar, punktuelle Erhebungen in bestimmtem Abstand und mit bestimmtem Muster – es ist Blindenschrift, entwickelt von Luis Braille. Mit ihrer Hilfe können Blinde allein dank der Sensibilität ihrer Finger ganze Texte lesen. Für unsere Fingerkuppen ist das bei etwas Übung keine besondere Leistung: Sie können sogar winzigste Erhebungen von gerade einmal 0,006 Millimetern erspüren. Ein Punkt der Blindenschrift ist 167-mal höher.
Mittlerweile gibt es Forschungen aus Schweden und England, die ermitteln, wie das angenehme Gefühl einer zärtlichen Berührung zustande kommt. Die essenzielle Rolle dieses Systems ist es, emotionale, hormonelle und Verhaltensreaktionen zu ermöglichen oder zu unterstützen, wenn wir Hautkontakt zu einem Artgenossen haben. (Quellenverweis: www.dasgehirn.info).
Wir sehen hier das gewaltige Potenzial unserer Sinne. Vieles davon brauchen wir natürlich im Alltag nicht und so verkümmern unsere Fähigkeiten ein wenig.
Im Verlauf der Ausbildung lernten wir uns immer mehr mit der Anatomie zu beschäftigen, aber es ist etwas anderes Anatomie in einem Buch zu lernen oder sich mit einem lebendigen Organismus zu beschäftigen. Durch das ständige Verbessern unserer Wahrnehmung erfuhren wir noch eine „andere“ Form des Wissens. Die Beweglichkeit von Organen, Knochen und Geweben, deren Konsistenz und Bewegungsrhythmen und vieles mehr, was man nicht über den reinen Intellekt erfassen kann. Man kann es aber lernen und erfahren, andernfalls könnte es wohl keine Ausbildung zum Osteopathen geben.
Nehmen wir folgendes Beispiel:
Eine Mutter warnt ihr Kind, die Hand nicht auf eine heiße Herdplatte zu legen. Hier vertraut das Kind der Mutter und deren Erfahrung oder Wissen durch Überlieferung, was in vielen Fällen auch wichtig ist. Aber wirklich „wissen“ können wir nur Dinge, die wir verstehen, weil wir sie selbst gespürt haben. Das „tatsächliche Wissen“ – um den Schmerz bei einer starken Verbrennung könnte das Kind leider nur durch „Ausprobieren“ erlangen.
Unsere Hände erspüren also die Blockaden, die im Gewebe ihre Spuren hinterlassen haben. Dank spezifischer Techniken ist es möglich, das Gewebe dabei zu unterstützen, Stress aufzulösen und die Physiologie wieder herzustellen.
Dieses Gefühl ist faszinierend und weckt in mir den Wunsch, eine Verbindung zwischen mir und meinen Patienten herzustellen, die es ihnen ermöglicht, diese wundervollen Prozesse miterleben zu können. Hin und wieder mache ich auch die Erfahrung, dass der Patient durch ein ausgeprägtes Körperbewusstsein, zumindest Teile der Prozesse in seinem Körper wahrnimmt und so ein neues Verständnis über sich selbst und seine Gesundheit entwickelt.
Man kann schon sagen, dass ich mich über solche Erlebnisse sehr freue, aber für den Heilungsprozess ist es nicht erforderlich, dass der Patient dieses Gefühl nachvollziehen kann; in diesem Fall ist viel mehr das Vertrauen des Patienten in das Wissen des Osteopathen gefragt.
„Das Wunder passiert nicht gegen die Natur, sondern gegen unser Wissen von der Natur“ Aurelius Augustinus (354 – 430) Bischof u. Kirchenlehrer