“Und wieder ist Montag. Ich fühle mich müde, kraftlos und drohe zu verzweifeln, wenn dies so weiter geht. Das ganze Wochenende bin ich nicht zur Ruhe gekommen. Die Gedanken drehen sich im Kopf andauernd um die Arbeit, die noch ansteht, die Rechnungen, die noch gestellt und bezahlt werden müssen, die Anfragen, die ich noch beantworten muss, die Reparaturen, die ich schon so lange versprochen habe zu machen… Es stehen einfach viel zu viel Dinge an, für die ich keine Zeit finde und neue Aufgaben kommen dazu. Wieder konnte ich die Nacht über kaum schlafen. Auch plagt mich ein Druck im Kopf, Rücken- und Magenschmerzen und Herzklopfen. Ich fühle mich dabei einfach leer, erschöpft und sehne mich nach Urlaub.”
Viele kennen dieses Phänomen, das immer weiter verbreitet ist und seit der Veröffentlichung eines entsprechenden Artikels von Herbert Freudenberger 1974 als Burnout-Syndrom bezeichnet wird. Manche sprechen von einer Modeerscheinung oder Zivilisationskrankheit, andere wiederum warnen vor einer sich generalisierenden Burnout-Epidemie.
Es wird zum ersten Mal in der kommenden Fassung der Internationalen Klassifikation von Krankheiten, ICD-11, als „occupational phenomenon“ aufgeführt werden. In der derzeit noch gültigen ICD-10 ist es lediglich mit einer Zusatz-Ziffer für Personen, die das Gesundheitswesen aus sonstigen Gründen in Anspruch nehmen, abgedeckt. Die Ziffer Z73 steht hier für “Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung”. Dies bezieht sich auf Mangel an Entspannung oder Freizeit, sowie soziale Rollenkonflikte.
Im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM–5) der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (APA), dem dominierenden psychiatrischen Klassifikationssystem in den USA, wird es im Rahmen des Neurasthenie-Spektrums erwähnt, aber nicht als eigenständiges Krankheitsbild aufgeführt.
Wenn auch der offizielle Einzug in die Diagnoselisten nur langsam erfolgt, ist die Problematik allgemein bekannt und gegenwärtig. Allein die deutschsprachige Internetseite von Amazon listet derzeit weit über 10.000 Buchtitel zum Stichwort Burnout.
Die Ursache für das Burnout-Syndrom wird in einem andauerndem Stress mit Überlastung am Arbeitsplatz gesehen. Das Konzept von Stress geht auf die 1915 von Walter Cannon beschriebene Kampf-oder-Flucht-Reaktion (fight- or-flight response) zurück, die in der Evolutionsgeschichte bereits bei Reptilien das Überleben durch die schnelle Freisetzung von Adrenalin und Cortisol sichergestellt hat, welche eine rasche körperliche und seelische Anpassung an lebensbedrohliche Gefahrensituationen erlauben.
Unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen haben sich in nur wenigen Jahrhunderten grundlegend verändert und heute besteht für die meisten Menschen keine unmittelbare Gefahr mehr für das Überleben durch plötzlich auftretenden Situationen, die von unserem Gehirn weiterhin als bedrohlich erkannt und eingestuft werden. Die zuvor lebensrettenden Reaktionsmuster bleiben jedoch auch weiterhin noch tief verankert in unserem “Althirn” (Paleokortex), das im Großen und Ganzen auf der Evolutionsstufe der Reptilien verblieben ist. Hier feuern auch weiterhin die bewährten lebensrettenden Schaltkreise aus der Vorzeit bei erlebten Bedrohungen und Gefahren. Eine Anpassung an die Lebensbedingungen der gegenwärtigen Zivilisation ist nicht so schnell zu erwarten wie sich unsere gesellschaftlichen Lebensbedingungen verändert haben.
Werner Tiki Küstenmacher, der vor 20 Jahren durch die Veröffentlichung seines Bestsellers “Simplify your life” in Deutschland sehr bekannt wurde, hat diesen archaischen Gehirnanteil, der uns noch von der Reptilien-Epoche vererbt wurde, als niedliches aber kaum intelligentes, reptilienartiges Haustierchen gezeichnet, das er Limbi genannt hat. Limbi, wie das limbische System, das ein wichtiges Areal dieses Gehirnanteils ist und die Verantwortung für unsere Emotionen trägt.
Es ist dieses Limbi in uns, das immer wieder Alarm schlägt, den Blutdruck in die Höhe peitscht, die Verdauung blockiert und den Muskeltonus erhöht um eine schnelle Kampf- oder Fluchtbereitschaft zu ermöglichen. Diese Reaktion ist aber bei unseren heutigen Arbeitsbedingungen nicht mehr angebracht und sinnvoll. Ihr wiederholtes Auftreten richtet mehr Schaden an als dass es hilft und führt zu einem Zustand von Überforderung sowie reduzierter Leistungszufriedenheit, den wir jetzt Burnout nennen.
Tatjana Reichhart hat dies sehr schön in ihrem Buch, “Das Prinzip Selbstfürsorge,” mit einem Wasserfass verglichen. Alles, was uns stresst, zum Beispiel Zeitdruck, Zwist mit Kollegen oder Angst vor der Zukunft, wird in unser Stress-Fass geschüttet. Wenn es voll ist, reicht ein kleiner Tropfen Ärger, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Dann passiert es zum Beispiel, dass unser Partner uns morgens nicht freundlich genug grüßt und wir deswegen einen “Nervenzusammenbruch” erleiden. Was das Fass ständig immer weiter auffüllt ist jede Form von Reizüberflutung und Ablenkung.
Viele glauben ihre Leistungsfähigkeit durch Multitasking verbessern zu können indem sie verschiedene Aufgaben gleichzeitig bearbeiten. Aber entsprechende Studien haben immer wieder gezeigt, dass gerade das Gegenteil der Fall ist. Wir können uns immer nur auf ein Ding konzentrieren und wenn wir mehrere Dinge gleichzeitig erledigen wollen, muss unsere Aufmerksamkeit ständig von dem Einen zum Anderen springen. Dies braucht zusätzliche Zeit und Energie, die uns dann bei der Erledigung der einzelnen Aufgaben fehlt. Das gleiche passiert jedes Mal wenn wir von dem, was wir gerade tun, abgelenkt werden, sei dies durch einen Telefonanruf, eine ankommende Email oder die kurze Frage eines Kollegen. Dies wird sehr schön von Nir Eyal in seinem Buch “Indistractable: How to Control Your Attention and Choose Your Life” (eine Fortsetzung seines früheren Bestsellers “Hooked”) dargestellt und erläutert.
Auch Mel Robbins schildert sehr schön in ihrem Buch “The 5 Second Rule: Transform your Life, Work, and Confidence with Everyday Courage” wie sie durch eine anhaltende Anhäufung von Stress zu einem Burnout-Syndrom kam, bis sie dann schließlich ihre persönliche Lösung fand, um diesem Teufelskreis zu entkommen.
Bei dem klassischen Stress-Model, das auch Jon Kabat-Zinn verwendet, lösen Stressoren (das sind spezifische äußere Reize), die sich wie das Wetter nicht von uns beeinflussen lassen, psychische und physische Reaktionen aus. Diese können zum Beispiel Wut und Frustration bei der unmittelbaren Ausschüttung von Adrenalin sein, wenn ein Bus gerade vor unserer Nase wegfährt, oder ein Gefühl der Machtlosigkeit und Niedergeschlagenheit bei anhaltenden Sorgen wie Verschuldung oder Problemen mit Finanzbehörden.
Stressoren, die typischerweise mit negativen Gefühlen beladen sind, fordern eine Reaktion (auf Englisch response) unsererseits. Sobald das Fass droht überzulaufen wird diese nur zu gerne von spontanen Bewältigungsmechanismen (sogenannten coping strategies) übernommen. Jon Kabat-Zinn spricht hier von einer Autopilot-Funktion, die uns die Unannehmlichkeiten, uns damit befassen zu müssen, abnimmt.
Die klassischen Bewältigungsmechanismen dieser Autopilot-Funktion sind das Leugnen (denial), die Arbeitssucht (workaholism), der Substanzmissbrauch (Kaffee, Nikotin, Alkohol, Drogen), sowie Essstörungen und Kaufsucht. Diese altbewährten Bewältigungsmechanismen sind jedoch an die heutigen Lebensbedingungen schlecht angepasst und erweisen sich daher als noch schädlicher als die ursprünglichen Stressoren, da sie einen nicht endenden Teufelskreis von Reaktionen in uns auslösen.
Es stellt sich nun die Frage nach den Auswegen, um dieser Situation zu entkommen, die uns ansonsten bis ins Innerste ausbrennen lässt. Hier ist zunächst anzumerken, dass Stress nicht immer nur negative Auswirkungen hat.
Jon Kabat-Zinn wohl bekanntestes Buch von 1990 trägt den Titel: “Full Catastrophe Living.” Dieser geht auf einen Ausspruch in der verfilmten Fassung des Romans “Sorbas” von Nikos Kazantzakis zurück. Der lebensfrohe Held erklärt hiermit in gebrochenem Englisch, dass die Probleme und Schwierigkeiten ein wichtiger Teil und eine unentbehrliche Voraussetzung für ein glückliches und erfülltes Leben sind.
Ein Leben ohne Probleme, das heißt hier mit einem ständig leeren Fass, wäre langweilig und unbedeutend, wie das Schicksal bei einer angeborener Anästhesie (fehlendes Schmerzempfinden). Wenn wir keinen Schmerz kennen fehlt uns ein wichtiger Lehrer und wir sind Gefahren von schwerwiegenden Verletzungen ausgeliefert ohne dies zu merken oder zu wissen. Die untere Hälfte des Fasses beherbergt den positiven Stress, der uns antreibt und motiviert. Erst wenn das Fass droht überzulaufen, kommt es zu dem schädlichem Stress.
Studien haben gezeigt, dass die Leichtigkeit und Geschwindigkeit, mit der sich das Fass zum Überlaufen füllen kann von genetischen Faktoren und Persönlichkeitseigenschaften abhängen, die auf frühe Kindheitserfahrungen zurück gehen und von Bestandteilen wie Selbstwertgefühl und Urvertrauen bestimmt werden.
Wir haben gesehen, dass die Stressoren, denen wir wie dem Wetter ausgesetzt sind, jenseits unseres Einflusses liegen. Wir sind ihnen preisgegeben ohne etwas an ihnen ändern zu können. Dies verhält sich jedoch nicht so mit unserer Reaktionsweise (auf English response). Diese ist sehr wohl unseren Kontrollmöglichkeiten unterworfen und wir haben die Möglichkeit auf unserer Gefühle und unser Verhalten Einfluss zu nehmen.
Jon Kabat-Zinn schreibt, dass der Stress und die Schmerzen, mit denen wir zu leben lernen, es uns auch erlauben, uns weiter zu entwickeln und stärker zu werden. Diese letzte Aussage hätte sehr wohl auch von Friedrich Nietzsche sein können.
Der beste Weg um dies zu erreichen ist für Jon Kabat-Zinn, dem Erfinder der Mindfulness Based Stress Reduction Therapy (MBSR), die Achtsamkeit.
Bei dieser geht man von der Frage aus, was man machen würde, wenn man nur noch Augenblicke zu leben hätte. Die Perspektive und die Wichtigkeit, die wir den Dingen zusprechen ändern sich und wir sehen unsere Existenz plötzlich mit anderen Augen.
Die Wahrheit ist, dass wir wirklich nur Augenblicke zu leben haben, nämlich jetzt und danach wieder wenn wir weiter das Glück haben, noch hier zu sein.
Die Frage, die uns hier beschäftigen sollte ist nicht, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, sondern viel mehr, ob es für uns noch ein Leben vor dem Tod geben kann.
Bei der Achtsamkeit konzentrieren wir unsere volle Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt. Wir lassen Körperempfindungen (z. B. Schmerzen), Gefühle und Gedanken vor unserem inneren Auge vorüber gehen, ohne zu urteilen und ohne diese zurückzuhalten.
Eine Harvard Studie von 2012 hat gezeigt, dass diejenigen, die im Hier und Jetzt leben, ruhiger, gelassener und glücklicher sind.
Sobald wir anfangen, uns ausschließlich auf die Gegenwart zu konzentrieren, werden dennoch Gedanken an die Vergangenheit und die Zukunft auftreten, aber die Achtsamkeit hilft uns unsere Aufmerksamkeit und unser Empfinden in der Gegenwart zu verankern. Durch regelmäßiges Üben gelingt dies immer besser.
Die Achtsamkeit erlaubt es uns zu erkennen, dass Gedanken an Schmerzen und Gefühle von Schmerzen nicht die Schmerzen selbst sind und erlaubt uns so, von diesen Abstand zu nehmen.
Arbeitsinhalte der Achtsamkeitsübungen, die helfen, den Gefahren von Burnout zu entkommen zielen darauf zu lernen, nein zu sagen, die Freude für die Natur um uns herum zu erwecken, körperliche und sportliche Tätigkeiten zu ermutigen sowie das Sozialleben zu fördern.
Es gibt eine Folgestufe, bei der das Selbstwertgefühl sowie Dankbarkeit und Freigebigkeit (generosity) im Mittelpunkt stehen.
Alternative Verfahrensweisen zur Achtsamkeit basieren ebenfalls mehr oder weniger auf diesen Grundprinzipien und erlauben vergleichbare Ergebnisse. Die Erfahrung zeigt, dass es nicht prinzipiell eine Frage der Überlegenheit des einen oder des anderen Therapieansatzes ist, sondern dass verschiedene Probanden und Patienten unterschiedlich gut mit der einen oder der anderen Methode zu Recht kommen.
Diese anderen und in der Praxis oft ebenso gut oder manchmal auch besser wirkenden Behandlungsweisen sind die Sophrologie, die Hypnose, das Autogene Training, aber auch die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson. Auch Formen von Yoga sowie geführte Entspannungsübungen und Wellness Anwendungen haben positive Effekte, die man nicht vernachlässigen darf.
Es ist hier auch kritisch anzumerken, dass die Technik der Achtsamkeit keineswegs von Jon Kabat-Zinn oder einem der vielen anderen Autoren, die sich darauf berufen, erfunden wurde. Man findet sie bereits in sehr alten Meditationspraktiken der Buddhisten, aber auch in bestimmten Varianten des christlichen Gebets, um nur einige zu nennen. Was sich geändert hat ist die Namensgebung und die Anwendung außerhalb von religiösen Zusammenhängen, sowie ihre wissenschaftliche Validierung durch moderne Untersuchungsmethoden, von der Elektroenzophalographie (EEG) bis zur funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT).
Die Achtsamkeit ist auch seit den ersten Ansätzen durch Carl Gustav Jung, Erich Fromm, der Gestalttherapie von Fritz und Laura Perls und Carl Rogers in den ‘60er Jahren, der “Sensory Awareness Foundation” von Charlotte Selver und den Veröffentlichungen von Jon Kabat-Zinn Anfang der Jahre 1990 jetzt weltweit zu einem 4 Milliarden Geschäft geworden mit weit über 60.000 Büchern, die Achtsamkeit (auf English mindfulness) in ihrem Titel haben.
Dies belegt die Wirksamkeit dieses Therapieansatzes, sollte uns andererseits aber auch in Bezug auf die Qualitätskriterien der einzelnen Angebote kritisch sein lassen.
Alle hier angeführten Therapieformen haben gute Ergebnisse bei verschiedenen Formen von Burnout zeigen können, aber nicht jeder macht die gleichen Erfahrungen und kann die gleichen Erfolge vorweisen. Meistens ist auch eine gewisse Zeit der Übung erforderlich, bevor die ersten positiven Auswirkungen auftreten. Wenn aber eine Technik keinen Erfolg zeigt, ist es ratsam, einen qualifizierten Fachmann hinzu zu ziehen.
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