Die gute Nachricht zuerst: Chronisches Aufschieben, sprich Prokrastination, ist keine Krankheit. Zumindest nicht im Rahmen des Katalogs psychischer Diagnosen (ICD10). „Allerdings sehen Experten das ausgeprägte Aufschieben als durchaus behandlungsbedürftig an. Denn es führt dazu, dass Menschen sehr hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben. Zudem bereitet das Prokrastinieren anderen psychischen
und körperlichen Leiden den Weg“, fasst Diplom Psychologin Margarita Engberding in einem Interview mit der Barmer-Internet-Redaktion im Oktober 2023 zusammen.
Die Wissenschaftlerin und Therapeutin (Uni Münster) weiter: „Weil man mit seinen Angelegenheiten nicht klarkommt, ist man von sich selbst enttäuscht und enttäuscht auch andere. Das kann in depressive
Verstimmungen und andere psychische Probleme sowie problematische Verhaltens- und Denkweisen münden. Süchte können entstehen, weil man sich beispielsweise mit Computerspielen oder durch erhöhten
Alkoholkonsum von der eigentlich wichtigen Aufgabe ablenkt. Manchmal ist Prokrastination auch ein Nebeneffekt einer anderen psychischen Erkrankung, beispielsweise einer depressiven Phase oder einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS). Eine differenzierte Diagnose kann nur eine Fachärztin, ein Facharzt, eine Psychologin oder ein Psychologe stellen.“
Doch welche Schritte kann man unternehmen, um seine chronische „Aufschieberitis“ zu überwinden? „Sie sollten auf jeden Fall aktiv werden, wenn Sie mehr als die Hälfte wichtiger Vorhaben aufschieben, viel Zeit
damit vertrödeln und wenn es dadurch arge Probleme im Alltag oder Beruf gibt“, empfiehlt die Expertin und nennt einige Beispiele für chronische „Aufschieberitis“: „Es gibt Handwerker, deren Betrieb bankrott
zu gehen droht, weil sie das Schreiben der Rechnungen ständig aufschieben. Es gibt Lehrkräfte, die jeden Tag mit Bauchschmerzen in die Schule gehen, weil sie die Korrektur der Arbeiten vor sich
herschieben. Es gibt Studierende oder auch Doktoranden, die ihre Abschlüsse nicht erreichen. Manche recherchieren jahrelang, formulieren jedoch keine Arbeitsthese. Andere haben ihre Hausarbeit im
Kopf, aber bringen keinen Satz zu Papier. Und das sind nur die Aufgaben mit Deadline. Sehr viele Menschen verwirklichen Ziele in ihrem Leben nicht, die ihnen eigentlich sehr wichtig sind – eine Ausbildung, ein
Karriereschritt, eine Familiengründung, eine Reise – weil sie einfach nicht loslegen.“ Und, und, und…
Ist man nicht wirklich massiv von den Auswirkungen der Prokrastination betroffen, gibt es einige Ansätze, um sich selbst am Schopf zu packen und sich aus dem Sumpf von Bequemlichkeit und Lethargie herauszuziehen. Hier sind einige Tipps:
- Selbstreflexion: Versuchen Sie zu verstehen, warum Sie aufschieben. Identifizieren Sie mögliche Gründe wie Angst, Überforderung, Perfektionismus oder mangelnde Motivation.
- Realistische Ziele setzen: Setzen Sie klare, erreichbare Ziele. Teilen Sie größere Aufgaben in kleinere, leichter zu bewältigende Teile auf, um Überforderung zu vermeiden.
- Zeitmanagement: Erstellen Sie einen Zeitplan oder einen Arbeitsplan. Priorisieren Sie Aufgaben und legen Sie realistische Fristen fest. Dies hilft, den Arbeitsaufwand zu strukturieren und zu visualisieren.
- Belohnungssystem: Belohnen Sie sich selbst, wenn Sie eine Aufgabe abgeschlossen haben. Dies kann die Motivation steigern und positive Assoziationen mit der Arbeit schaffen.
- Arbeitsumgebung optimieren: Schaffen Sie eine positive und produktive Arbeitsumgebung. Reduzieren Sie Ablenkungen und organisieren Sie Ihren Arbeitsplatz.
- Pausen einplanen: Planen Sie regelmäßige Pausen ein, um Ermüdung zu vermeiden. Kurze Pausen können die Konzentration steigern und die Produktivität verbessern.
- Mit anderen teilen: Besprechen Sie Ihre Ziele und Fortschritte mit Freunden, Familienmitgliedern oder Kollegen. Das kann Druck erzeugen, sich verantwortlich fühlen und Unterstützung bieten.
- To-Do-Listen nutzen: Erstellen Sie tägliche To-Do-Listen, um Aufgaben zu organisieren. Das Abhaken erledigter Aufgaben kann ein Gefühl der Erfüllung vermitteln.
- Ursachen angehen: Wenn Prokrastination auf tieferliegenden Problemen wie Angst oder mangelndem Selbstvertrauen beruht, könnte es hilfreich sein, diese Ursachen mit einem Therapeuten zu besprechen.
- Selbstmitgefühl entwickeln: Seien Sie nachsichtig mit sich selbst. Niemand ist perfekt, und es ist normal, gelegentlich aufzuschieben. Akzeptieren Sie Rückschläge und sehen Sie diese als Lerngelegenheiten.
Es kann hilfreich sein, verschiedene Strategien auszuprobieren und herauszufinden, welche am besten zu Ihnen passt. Es ist auch wichtig zu beachten, dass es normal ist, hin und wieder aufzuschieben, aber wenn dies zu einem chronischen Problem wird, sollte professionelle Unterstützung in Betracht gezogen werden.
Udo Foerster
Weiterführende Informationen.
Hier der Link zum Original-Interview mit Prokrastinations-Expertin
Margarita Engberding, Universität Münster:
https://www.barmer.de/gesundheit-verstehen/psyche/psychische-
gesundheit/prokrastination-1070908
Literatur (Auswahl):
Anna Höcker, Margarita Engberding, Fred Rist: Heute fange ich
wirklich an! Prokrastination und Aufschieben überwinden – ein
Ratgeber. 2., unveränderte Auflage. Göttingen: Hogrefe-Verlag,
2021.
Fred Rist: Neuropsychologie der Alkoholabhängigkeit. In: Stefan
Lautenbacher, Siegfried Gauggel
(Herausgeber), Neuropsychologie psychischer Störungen. 2.
Auflage. Berlin, Heidelberg: Springer, 2010, S. 285–308
Angelika Glöckner-Rist, Fred Rist, Heinrich Küfner: Elektronisches
Handbuch zu Erhebungsinstrumenten im Suchtbereich (EHES
4.0). Mannheim: Institut für Umfragen, Methoden und Analysen
(ZUMA) e. V., 2010
Rist F, Pedersen A, Höcker A, Engberding M
(2011): Pathologisches Aufschieben und die
Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung. Psychotherapie im
Dialog 12: 217–220