Cranio (Schädel) Sacrales (Kreuzbein) Konzept nach Dr. W.G. Sutherland = WISSENSCHAFT?
Wenn man nach Bildern von Osteopathen sucht, findet man häufig Fotos, die einen Therapeuten zeigen, der seine Hände bewegungslos auf dem Kopf seines Patienten ruhen lässt.
Viele Menschen begegnen dem mit Verwunderung, Skepsis oder gar Ablehnung.
Aber was steckt eigentlich dahinter?
Wie kommt jemand auf die Idee, Schädelknochen zu behandeln?
Wie gelangt man von der Idee über die Methodik zur praktischen Umsetzung?
Auf diese Fragen möchte ich im Folgenden näher eingehen und gleichzeitig die Frage nach wissenschaftlicher Arbeit in den Raum stellen.
„Wissen erlangen, nicht Informationen sammeln“
Diese Aussage von Dr. William G. Sutherland D. O. (1873-1954; Dr. W.G.S.) macht seine Arbeitsweise sehr deutlich. Dieser Text bezieht sich dabei „nur“ auf seine Annäherung an das Cranio Sacrale Konzept.
Begeben wir uns also mit Dr. W.G.S. auf eine kleine Zeitreise ins Jahr 1900:
Dr. W.G.S. war zu dieser Zeit Schüler an der American School of Osteopathy in Kirksville Missouri (gegründet und geleitet vom Entdecker der Osteopathie Andrew T. Still (1828-1917).
Seinen eigenen Berichten zufolge sah er eines Tages im Büro von Dr. Still einen Schädel liegen. Die Schläfenbeine waren abgeschrägt und er hatte den Eindruck, dass es aussah wie die Kiemen eines Fisches. Ein Geistesblitz durchzog ihn; dieser Knochenaufbau müsste auch eine bewegungsorientierte Funktion haben, die an einen Atemmechanismus (hier ist die Lungenatmung gemeint) gekoppelt sein könnte.
Gleichzeitig erschien ihm der Gedanke aber auch irrational und er fand es nicht angenehm weiter darüber nachzusinnen. Also versuchte er in den kommenden Jahren, die „Stimme in seinem Kopf“ zum Schweigen zu bringen.
„Hör auf dich zu drücken und mach dich auf“, so machte sich die Thematik, die ihn anscheinend nie wirklich losgelassen hatte, erneut bemerkbar; allerdings erst 20 Jahre später.
Diesmal packte es ihn richtig: Die frühen Ehejahre beschrieb seine Frau Ada Sutherland (A.S.) als die Knochenjahre. Fast jeden freien Moment widmete sich ihr Ehemann den Schädelknochen, nahm sie auseinander und setzte sie wieder zusammen wie ein Uhrmacher. „Überall im Haus lagen diese Knochen; auf dem Esstisch, der Kommode oder auf Stühlen“; lt. A.S. ein durchaus skurriler Anblick, vor allem für Gäste. „Das Sphenoid (Keilbein) wurde zu unserem Haustier“, so ihre Worte.
Was aber beabsichtige Dr. W.G.S. und wie ging er dabei vor?
Seine ersten Bemühungen bestanden darin, zu beweisen, dass sich der Schädel nicht bewegt. Er fand aber schnell das Gegenteil heraus; zunächst anhand der
Schädelnähte: akribisch studierte er deren Anatomie und stellte fest, dass es dazwischen Kugelgelenke, Wellen, Drehachsen und Zickzacknähte etc. gibt. Diese halten den Schädel zwar fest zusammen, ermöglichen aber gleichzeitig lebenslang einen gewissen Grad an Beweglichkeit. Diese Erkenntnis sollte ihm genügen, um den nächsten Schritt zu gehen.
Nun ging es darum, seine Theorien in die Praxis zu übertragen. Für ihn stand direkt fest, dass er die Versuche an sich selbst vornehmen musste. Er wollte Wissen erlangen und nicht Informationen sammeln. Dazu war es seines Erachtens wichtig, selbst zu fühlen, welche Auswirkungen seine Versuche haben würden.
Er entwickelte eine Vielzahl von Hilfsmitteln, z. B. wickelte er Baseballhandschuhe zusammen, verband sie mit Schnallen und Lederriemen, um so Druck auf sein Hinterhaupt ausüben und dosieren zu können. Butterschüsseln, Footballhelme oder Frotteehandtücher nutzte er, um unterschiedliche Stellen des Kopfes zu komprimieren oder zu öffnen. Immer beobachtete er sehr aufmerksam, was dabei im gesamten Körper passierte.
Wie umfangreich seine Beobachtungen waren, wird einem zumindest annähernd bewusst, wenn man bedenkt, dass der Schädel aus 22 Knochen besteht, der Unterricht in Theorie und Praxis von Dr. W.G.S. ausschließlich über das Occiput (Hinterhaupt) dauerte eine Woche. Wie viel Wissen muss man also erlangen, um eine Woche über einen einzelnen Knochen referieren zu können?
Erst 1939, nach fast weiteren 20 Jahren Forschung (in Theorie und Praxis), veröffentlichte er seine erste Abhandlung: „The Cranial Bowl“.
Die Reaktionen seiner Kollegen auf sein „Büchlein“ waren äußerst unterschiedlich, von vehementer Ablehnung bis zu ehrlicher Ermunterung zu weiteren Untersuchungen auf diesem Gebiet. In all der Zeit studierte und lernte er weiter und vertiefte seine Erkenntnisse.
Betrachten wir also vor unserem geistigen Auge noch einmal das Foto des Osteopathen vom Anfang des Artikels. Was denken Sie jetzt darüber? Haben Sie jetzt eine Idee, wie viel Energie und Zeit der Entdecker investiert hat, um dieses Wissen zu erlangen?
Die heutige Wissenschaft hat tatsächlich immer noch keinen Beweis für die Theorie des Atemmechanismus der Schädelknochen gefunden.
Was kann man daraus schließen?
Lt. Wikipedia hat die evidenzbasierte Medizin zum Ziel, dass Behandlungs-Entscheidungen der Patienten auf Basis der individuellen Erfahrung des Arztes unter Berücksichtigung der besten verfügbaren Evidenz (Nachweis, Beleg, Beweismaterial) getroffen werden. Das heißt m. E. grob übersetzt, dass Ergebnisse unter kontrollierten Bedingungen wiederholbar sind. Schlägt man im Duden nach, findet man als erstes folgende Definition zur Wissenschaft: „ein begründetes, geordnetes, für gesichert erachtetes Wissen bzw. Wissen hervorbringende forschende Tätigkeit in einem bestimmten Bereich“.
Hat Dr. W.G.S. diese Voraussetzungen erfüllt? Im Sinne der evidenzbasierten Medizin nicht vollständig.
Heißt das, dass sich Dr. W.G.S. geirrt hat?
Wenn es also aus wissenschaftlicher Sicht keinen Beweis für die Wirkung gibt, wie konnte er dann unzähligen seiner Patienten mit seinen Erkenntnissen in der Praxis helfen?
Und wie können dies Osteopathen, basierend auf Dr. W.G.S. Arbeit, heute weltweit tun?
Steckt die Wissenschaft in dem Dilemma, sich selbst durch ihr Regelwerk einzuschränken oder können wir dieses Regelwerk durchaus als Basis akzeptieren und trotzdem abwägen, ob der Erfolg in vielen Fällen keinen wissenschaftlichen Beweis braucht.
Ich persönlich bin ein großer Freund von Wissenschaft, aber wenn das, was Dr. W.G.S. tat, keine vollständige Wissenschaft ist, unter welchem Begriff kann man seine Arbeit dann anerkennen.
Urteilen Sie selbst!
In diesem Sinne gilt mein Dank all den Menschen, wie Dr. W.G.S., die sich nicht durch Definitionen und Regeln beirren lassen. Letztendlich steht das Wohl anderer im Vordergrund, denn darum ging es Dr. W.G.S. Diese Motivation hat ihn unermüdlich weiter forschen und unkonventionelle Wege beschreiten lassen.
Quelle:
„Das große Sutherland-Kompendium“ (JOLANDOS, 2004)
Titelfoto:
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